Gute Hochschullehre zeichnet sich durch einen beständigen Einfluss aktueller Forschung auf Lehrinhalte und deren abwechslungsreiche, spannende und praxisnahe Präsentation aus. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.
Zum Studium einer angewandten Wissenschaft gehört eben auch das selbstständige wissenschaftliche Arbeiten, also das Anwenden des Gelernten im Sinne eines Feedbacks in die Wissenschaft. Der Lehrende nimmt dabei die Position eines Supervisors und der Lernende die Position eines Wissenschaftlers ein. In diesem Beitrag möchte ich (m)einen Weg aufzeigen diesen Perspektivwechsel zu gestalten.
Wann bietet sich der Perspektivwechsel an?
Die ersten Fragen, die sich stellen, sind die nach dem geeigneten Zeitpunkt und einem passenden Modul Studierende in die Welt der Wissenschaft eintauchen zu lassen. Ganz im Sinne Ockhams‘ Rasiermesser – die naheliegendste Theorie ist oft die Beste -, drängte sich das Softwareprojekt im 5. Semester der Allgemeinen und Digitalen Forensik förmlich auf. Nicht nur, dass es zu einem idealen Zeitpunkt stattfindet, zu dem bereits auf fundamentales Wissen zurückgegriffen werden kann, ist es auch inhaltlich bereits darauf ausgelegt, selbstständig Gelerntes zu nutzen, um eine konkrete Aufgabe zu lösen.
In seiner ursprünglichen Fassung erlaubte dieses Modul aber nur sehr begrenzt Erfahrungen mit realer Wissenschaft zu sammeln, zu Lernen, wozu man sich bisher durchs Studium gequält hat oder gar die Frage zu beantworten, ob eine wissenschaftliche Karriere ins persönliche Lebenskonzept passt. Dazu muss jede/r Studierende für sich die Frage beantworten können:
„Wie fühlt sich Wissenschaft an?“
Und dafür reicht es nicht, irgendeine gestellte Aufgabe zu lösen und den Weg dahin in Form einer Belegarbeit zu beschreiben.
Wie lässt sich ein Projektmodul so gestalten, dass es sich nach echter Wissenschaft anfühlt?
Diese Frage trieb mich lange um, bis mir eines Tages, wie so oft, der Zufall die Antwort vor die Füße legte. Im Rahmen der Forschungsarbeiten zu künstlichen Immunsystemen für soziale Netzwerke stießen wir auf einen interessanten Datensatz, der als Teil des German Evaluation Tasks veröffentlicht worden war.
Es ging darum, verletzende Rede in deutschen Tweets zu erkennen. Da dieses Thema von hoher strategischer Bedeutung für unsere aktuelle Forschung war und in dieser Form erstmalig im deutschsprachigen Raum aufgelegt wurde, entschloss sich unsere Arbeitsgruppe spontan daran teilzunehmen. Der Ablauf war klar strukturiert:
Phase 1
Verständnis für Problem, Daten und aktuellen Forschungsstand erarbeiten
Phase 2
Modell erzeugen und Evaluierung
Phase 3
Trainiertes Modell auf Testdaten anwenden und Ergebnisse einreichen
Phase 4
Aufsatz zum System verfassen und einreichen
Phase 5
Vortrag oder Poster für die Konferenz vorbereiten
Phase 6
System im Rahmen einer Konferenz vorstellen
Moment,
das ist doch genau das, was empirische Forschung ausmacht!
Und noch besser, das alles kann ein Bachelorstudent der Allgemeinen und digitalen Forensik im 5. Semester auch. Außerdem macht der Wettbewerb, das Vergleichen mit anderen Teams auch noch Spaß. Könnte man das Prinzip eines solchen Wettbewerbs nicht auf eine Lehrveranstaltung übertragen?
Daten und Aufgabenstellungen der meisten Wettbewerbe bleiben nach Beendigung öffentlich zugänglich, mehr noch, die meisten Problemstellungen werden in ähnlicher Form oft später neu aufgelegt. Dies kann man sich zu Nutze machen.
Die Studierenden können Teams bilden, in denen Sie im Verlaufe eines Semesters eine vom Dozenten vorgeschlagenen Aufgaben lösen. Diese wurden im Vorfeld auf einer Lernplattform, in meinem Fall Moodle, kurz vorgestellt (Screenshot des Call for Participation). Dabei sollten immer mindestens zwei Gruppen die gleiche Aufgabe lösen, um Wettbewerb zu erzeugen. In wöchentlichen Iterationen präsentieren die Gruppen in kurzen Pitches dem Supervisor (Dozent/in) ihren aktuellen Entwicklungsstand und erhalten von diesem und Mitgliedern anderer Gruppen wertvolles Feedback. Gegen Ende des Semesters schreibt jede Gruppe einen Systemaufsatz nach den realen Anforderungen an eine Publikation für die jeweilige Konferenz. Auch hier erhalten Sie vom Supervisor Unterstützung und Feedback.
So kann die Bewertung aussehen
Dieser Aufsatz dient gleichzeitig als Belegarbeit und bildet gemeinsam mit den anderen erzeugten Artefakten die Grundlage für die Bewertung (Peer-Review) durch den Supervisor und einen weiteren Gutachter. Dieser Beleg wird anschließend ausführlich mit jeder Gruppe ausgewertet. So erhält jeder Studierende wertvolle Hinweise für das Schreiben der Bachelorarbeit in der sich anschließenden Bachelorphase.
Jede Gruppe muss außerdem in einem zwanzigminütigen Vortrag ihren Ansatz und die erzielten Ergebnisse vorstellen und sich anschließend den Fragen des Auditoriums stellen (Fachvortrag und Disputation). Die Gruppen sind dabei angehalten, mindestens eine Frage zu jedem Vortrag zu stellen.
Ein klarer Mehrwert für die Studierenden
Fallen Ausschreibung eines Wettbewerbs und Semester günstig zusammen, wird die beste Arbeit tatsächlich beim zugehörigen Wettbewerb eingereicht. Die Gruppe kann ihre Arbeit dann in der Konferenz unter realen Bedingungen vorstellen und verteidigen.
Andernfalls, erhält die beste Gruppe die Möglichkeit, sofern der State-of-the-Art überschritten wurde, gemeinsam mit dem Dozenten einen Beitrag für eine passende Fachkonferenz einzureichen und, sofern möglich, an der zugehörigen Konferenz teilzunehmen. In jedem Fall haben die Mitglieder der erfolgreichsten Gruppe (n) ihr erstes wissenschaftliches Paper veröffentlicht.
Auf diese Weise entstanden in den letzten Jahren hervorragende Beiträge, welche für Anerkennung in der Fachwelt sorgten.
Für die Studierenden bedeutet dieses Modul sehr viel Fleiß und Arbeit, aber auch die Möglichkeit über sich hinauszuwachsen und festzustellen welches Leistungspotential sich in 5 Semestern Studium bereits angesammelt hat.
Aus dem Modul entstandene Publikationen
Autor:in

Dr. Michael Spranger
Im Gegensatz zu vielen meiner Mentoren startete mein akademischer Lebensweg nicht direkt nach der Schule. In den Wirren der Nachwendezeit widmete ich mich zunächst voller Leidenschaft dem Erlernen eines Handwerksberufes und startete erst später auf dem zweiten Bildungsweg meine akademische Karriere.
Das Design von intelligenten Softwarelösungen ist seitdem meine Leidenschaft. Mit der digitalen Forensik kam ich erst nach dem Masterstudium in Berührung. Seit diesem Zeitpunkt beschäftige ich mich intensiv mit der digitalen forensischen Kommunikationsanalyse und der prädiktiven Polizeiarbeit.
Meiner Meinung nach gibt es kaum ein anderes Gebiet der Informatik, welches abwechslungsreicher und spannender ist. Nach mittlerweile neun Jahren Forschung auf diesem Gebiet geht es mir wie Enrico Fermi, als er sagte: „Ich bin immer noch verwirrt, aber auf einem höheren Niveau.“