Forschung / Transfer

God´s own Country

Carolin SteinerForschung / Transfer

God´s own Country

Bericht über eine Forschungsreise ins nordenglische Yorkshire im Zuge meiner Dissertation
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27. September 2022

Von kulturellen Seilen und Ketten

Es ist ein Mittwoch irgendwann im Februar dieses Jahres und sogar im Norden von England brechen die ersten Sonnenstrahlen die Winterdecke aus Wolken auf. In einem kleinen Café mit warmen Landhausdielen, großen Ohrensesseln und einer schier absurden Menge an Pflanzen bestelle ich einen Flat White, tippe mein Handy gegen das Bezahlgerät und warte. Die Barista macht Small Talk während sie hingebungsvoll Kaffee-alchemistisch mein Getränk zaubert. Sie fragt mich, was ich hier tue, und ich erzähle ihr, dass ich an meiner Dissertation arbeite.

Wicked, antwortet sie und fragt weiter. Was ich mache, warum genau hier, ob es mir hier gefällt. Nach jeder meiner Antworten: ein anerkennendes, halb geflüstertes Wicked und das Zischen der Espressomaschine.

Später sitze ich in einem der großen Ohrensessel: senfgelb, mit riesigen grünen Kissen auf denen grasende Schafe zu sehen sind – man ist stolz hier auf die Yorkshire Dales, das wilde Umland, die Schafe und Kühe und das rauhe Wetter. In der Kunst, in der Kultur, in den Menschen sind die scharfen Felsen und das Violett der Fjälle nicht wegzudenken, nicht mal hier in der Millionenmetropole Leeds.

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God’s Own Country nennen die Menschen hier Yorkshire liebevoll, Gottes eigene Heimat. In seinem Gedicht And Did Those Feet in Ancient Times zeichnet Poet William Blake einen tief-christlichen Exzeptionalitätsmythos Englands: die tragende Interpretation legt nahe, dass Jesus nach seiner Wiederauferstehung England besuchte, und durch diesen Abstecher ein zweites Jerusalem, einen Himmel in England erschuf. And was Jerusalem builded here, among these dark Satanic Mills? fragt Blake, und für jeden Menschen hier in Yorkshire ist klar, dass diese Dark Satanic Mills der Süden mit dem riesigen Industriezentrum London und dem Smog und den Folgen der Industrialisierung sind. (Aus irgendeinem Grund vergessen die Menschen aus Yorkshire gerne, das mit Leeds, Sheffield und Bradford große Industriezentren auch dort lagen – aber Vergessen gehört genau so zu den Kernstärken der Nordengländer*innen wie Erinnern.)

Blakes Gedicht wurde später von Sir Hubert Parry in Jerusalem, die inoffizielle Hymne Englands, zerlegt, welche auch heute jedes Kind noch singen kann. Die erste Strophe schließt mit And was the holy Lamb of God On England’s pleasant pastures seen? Und für die Yorkshire’ian Eigenwahrnehmung ist klar: Blake und Parry können mit den pleasant pastures hier nur Yorkshire meinen. God’s Own Country, eben. Ich denke an meine Bekannte Pam, die an einem Winterabend über die Berge gestikuliert hat: „I don’t know if I believe in God, but this place makes you believe Heaven is real.“

In dem kleinen Café mit dem Ohrensessel macht die Barista Mittagspause. Sie fragt mich, ob sie sich zu mir setzen kann. Ich zögere eine Sekunde, ich bin diese urdeutsche Trennung zwischen privat und professionell gewöhnt, aber sie hat sich schon hingesetzt und angefangen zu erzählen. Ihre Worte sind schnell und weich und sie erzählt mir von ihrem Bruder, der die Mama nach dem Herzinfarkt pflegt, dass sie gerne einen Master machen würde, aber dass das hier so teuer ist, und von den Büchern, die sie gelesen hat. Ich bin damit oft überfordert, die Intimität der Themen macht mir zu schaffen und ich weiß nicht, was ich sagen soll – insbesondere wenn die Menschen an den Nachbartischen mit ins Gespräch einsteigen, es wieder verlassen, neu dazukommen. Am Ende verlasse ich das Café mit einer Telefonnummer von „dem einen Typen hier, der organisiert die Creative Writing Gruppe“ und der Anweisung, dass ich ihm definitiv eine Nachricht schreiben und auch von ihr Hallo sagen soll.

In den kommenden Monaten werde ich Teil einer Creative Writing-Gruppe; finde Freunde, die mir noch heute Fotos von ihren Katzen schicken; treffe ich Menschen, die mich nur mit Love ansprechen (und stürze in eine feministische Daseinskrise, als mir ein Teenager die Tür aufhält und dazu „Here you are, my love“ sagt); erkläre Menschen immer wieder wo mein Akzent herkommt (und höre im Austausch von den Verwandten aus Kiel/Münster/Altona); werde zum Abendessen bei wildfremden Menschen eingeladen (Yorkshire Pudding, obviously); habe eine Identitätskrise, weil ich nicht verstehe, wie der Müllabfuhrtag funktioniert, wenn hinter meinem Haus doch nur eine Fahrrad-breite Gasse ist; werde ich Teil eines Buchclubs, der aus sieben Hausfrauen aus dem Yorkshire Hinterland jenseits der sechzig, mir und  Dave besteht; lerne viel über Brexit und Brexitbereuen; verfahre mich und finde magische Orte und Menschen.

An einem Freitag im Februar dieses Jahres bezahle ich den Preis für alle diese Momente als ich ein Flugzeug betrete mit der einzigen Absicht einen Ozean(-kanal) zu überqueren, um mich von meiner heißgeliebten Oma zu verabschieden. Es ist klar, dass sie in den nächsten Tagen, vielleicht sogar noch Wochen versterben wird, und als ich am Sonntag das Krankenhaus verlasse schreibe ich einem Lieblingsmensch eine SMS: „Leaving this hospital feels like the worst thing I have ever done in my entire life“. Sie stirbt wenige Tage später, mein Vater ruft mich an als ich im Auto auf dem Weg zurück von London nach Leeds bin. Trauer ist ein schwer zu navigierender Ozean, selbst mit Sextant und Kompass. In diesem fremden Land, in dem meine Worte immer um eine Haaresbreite ihren Zweck verfehlen, in dem ich oft zu schroff bin und andere Menschen oft nicht verstehe, in dem die anstehende Müllabfuhr in mir eine halbe Panikattacke verursacht, weil ich einfach nie ganz sicher bin, ob ich gerade etwas falsch mache, in diesem Land sitze ich in einer kleinen Nussschale und treibe ziellos.

Ich bin in England, um zu forschen und an meiner Dissertation zu arbeiten, und doch wird das Endresultat der fast sechs Monate nicht das sein, was in meinen Notizbüchern steht. Ich werde super vorangekommen sein, werde dank der exzellenten Bibliotheken der Unis und dank der British Library so viel Literatur sichten können, wie in Deutschland schlichtweg unmöglich gewesen wäre. Ich werde Kernkonzepte, Probleme entdecken, werde Netzwerke bilden. Werde Biere in Pubs mit Professor*innen aus Newcastle oder London, mit deren Studierenden, trinken, mit denen sie so ein ganz anderes Verhältnis pflegen als ich es aus Deutschland kenne. Ich werde viel lernen über Barrierefreiheit und Inklusivität, über Invisible Disabilities und das all das mehr bedeutet als Regenbogenflaggen und Rollstuhlrampen. All das ist wichtig, unfassbar wichtig, aber dennoch nicht das Wichtigste. Irgendwo in meinen Notizen ist ein Zitat von Michelle Balaev, einer Traumaforscherin aus den USA, mit der ich mich in meiner Zeit in England intensiv beschäftigt habe.

The landscape provides a referential framework for the protagonist to understand the self because the land contains historical and cultural valence. […] More than a metaphor for an emotional state, the land is an entity that contains and transmits knowledge of [the] sense of self. The conceptual orientation of positioning the self in relation to a landscape suggests that identity is formed by and through a relation to place, a view that expands mythological and psychological aspects of identity formation.

Balaev, Michelle.
The Nature of Trauma in American Novels. Northwestern University Press, 2012, p. 46

Es ist eine Sache über Identität zu schreiben, nach Mechanismen von Identitätsbildung zu forschen, und versuchen zu verstehen, wie das Selbst im breiten, relationalen Kontext des nebulösen Begriffs Kultur verankert ist. Ich kann meinen Studierenden von kulturellen Skripten erzählen und davon, dass sie uns Sicherheit und Orientierung geben, und ich kann ein tiefes, theoretisches Verständnis eben jener Konzeptionen vorweisen. Stuart Hall und die Fluidität der Kulturidentität mögen tief verwurzelt in kulturwissenschaftlicher Theorie sein, aber viszeral verstehe ich all das erst, als ich in einem Land, in dem ich weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft habe, die komplette Bandbreite aller menschlichen Emotionen verarbeiten muss. Simple Unsicherheiten, wie die Frage, wann ich im Restaurant bezahle, das fehlende Sicherheitsnetz einer Gesundheitsversorgung, von der ich es gewohnt bin, sie zu navigieren, die Distanz zu den Menschen, die sich sicher anfühlen.

Rausfinden, wie Dinge funktionieren und dabei perpetuell die Balance auf den Zehenspitzen halten, um möglichst viel zu sehen, nichts zu verpassen. Viel mehr als all die Bücher und Notizen und dreifach-verworfenen theoretischen Ansätze für meine Dissertation ist das Verstehen der Schwere kultureller Seile, und wie schnell Seile zu Ketten werden können, wenn diese Verstehensprozesse nicht bewusst wahrgenommen werden (können). Drei neue, erweiterte Horizonte und zwei Tellerränder später bin ich dankbar, dass ich die Möglichkeit gehabt habe meine eigenen kulturellen Paradigmen mit Hilfe meiner Zeit in Yorkshire hinterfragen und adjustieren zu können. Die Zeit war intensiv-formativ sowohl auf persönlicher als auch professioneller Ebene: Wobei ich von den Menschen in Yorkshire ja gelernt habe, dass diese Trennung so oder so nur künstlich-separierte Dichotomie ist. Am Ende ist eben alles Identität, egal ob Wort oder Ort.

In meinem Sommerurlaub bin ich zurück nach England gekehrt. Ich wollte an meiner Dissertation arbeiten, Menschen wiedersehen, und endlich wieder vernünftigen Tee trinken. In einem kleinen Ort mitten in den Yorkshire Dales gibt es einen Buchladen, der von einem Mutter-Sohn-Duo geführt wird, und aus dem heraus mein Book Club noch immer (wenn auch jetzt via Zoom) weiterläuft – der Laden ist klein, aber Besitzerin Linda ist wahnsinnig stolz darauf, dass er jetzt als Filmset für eine Amazon-Serie dient. Ihr Sohn James zeigt mir derweil die Resultate der Astrophotographieversuche, die er in meiner Abwesenheit unternommen hat. Hinter der Kasse steht die Mitarbeiterin Lyndsey: wir reden über das kommende Taylor Swift-Album und Corgis, und darüber, dass sie mir unbedingt Photos von der nächsten Lammsaison schicken muss. Linda fragt mich, wie es ist zurück zu sein, und ich breche in Schwärmen aus: die Fjälls, die Landschaft, die Menschen. Sie zuckt mit den Schultern und grinst schelmisch.

„You’ve ought to be here,“ sagt sie. „Nobody can tell me you don’t belong here”. Ich denke an Michelle Balaevs Worte, als ich zum Café nebenan laufe, um den obligatorischen Flat White zu bestellen. Hinter der Bestelltheke steht ein Mann mit schiefem Grinsen, und seine Frau wirbelt singend durch das Café. Als er mich sieht, sagt er „It’s good to see you‘re back“. Es erscheint mir, als seien die Seile kulturelle Zugehörigkeit nicht nur enorm dehnbar, sondern auch tiefbunt miteinander verwoben.