Forschung / Transfer

„Anthropo-Was?!“

Marie Luise HeuschkelForschung / Transfer Leave a Comment

„Anthropo-Was?!“

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9. November 2023

Ich bin Anthropologin.

Ein Satz, und schon folgt das Unausweichliche: „Was genau ist das eigentlich?“

Auf die Frage nach meinem Berufsfeld stoße ich oft auf ein Mischmasch aus Neugier und Verwirrung. TV-Serien wie "Bones" kommen oft ins Spiel, doch sie kratzen nur an der Oberfläche eines tiefen und facettenreichen Feldes.

Es geht ums Menschsein

Die Anthropologie ist für viele ein unentdecktes Terrain, oft missverstanden, weil inhaltlich schwer einzuordnen – oder eher – schwer abzugrenzen. Das Fach ergründet und erfasst das Wesen des Menschseins in all seinen Facetten, von unseren biologischen Wurzeln über unsere Entwicklung bis hin zu unserer Art zu leben, denken, kommunizieren und interagieren, geprägt durch kulturelle Praktiken sowie biologische und ökologische Einflüsse, die unsere Gesellschaften und jede:n Einzelne:n darin formen.

Sie erstreckt sich über Kontinente, Kulturen und Zeitspannen, sucht nach universellen Mustern und spezifischen Unterschieden, wobei sie nicht nur die Vergangenheit, sondern auch aktuelle gesellschaftliche Phänomene zu entschlüsseln und zu verstehen versucht.

Auf diese Weise verlangt sie schon fast eine Universalgelehrtheit, mit der Folge, dass sie oft gegen eine "Alles- und Nichts"-Wahrnehmung ankämpfen muss. Jedoch zeichnet sie sich vor allem durch eine ganzheitliche Perspektive und eine grundlegende interdisziplinäre Verortung aus.

Im Kern beschäftigt sich die Anthropologie mit Fragen wie: Wie haben wir uns an unterschiedliche Umgebungen auf der ganzen Welt angepasst? Welche Rolle spielt Sprache in unserer Kultur und Identität? Wie formen soziale und kulturelle Strukturen unser tägliches Leben und unsere Weltanschauungen? Kurz:

Was ist der Mensch und wie wurden wir zu dem, was wir heute sind?
Die Antworten auf diese Fragen sind komplex und oft überraschend. Sie fordern uns heraus, über den Tellerrand hinauszuschauen und unsere eigenen Überzeugungen und Annahmen in Frage zu stellen.

Adaption
Unsere beeindruckende Fähigkeit, uns biologisch wie kulturell an unterschiedlichste Umgebungen und Gegebenheiten anzupassen.

Gesellschaft und Sozialisation
Wie wir uns organisieren, kulturelle Normen bilden und diese weitergeben.

Sprache
Als zentrales Mittel der Kommunikation, das unsere Denkweisen formt und unsere Kulturen widerspiegelt.

Lernen
Aus anthropologischer Sicht heraus untersuchen wir Wechselwirkungen im Lernprozess, um zu begreifen, wie Wissen erworben und weitergegeben wird.

Identität, Ethnizität und Nationalismus
Wie wir uns organisieren, kulturelle Normen bilden und diese weitergeben.

Klassifikation und Struktur
Wie Individuen und verschiedene Kulturen die Welt verstehen und einordnen.

Kognition
Das komplexe Netzwerk aller Prozesse, die mit dem Denken, Wahrnehmen und Erkennen zusammenhängen.

Evolution
Unsere Entwicklungsgeschichte, die uns mit anderen Lebewesen auf diesem Planeten verbindet.

Primaten
Das Verständnis unserer Verwandten, der Primaten, kann oft Licht auf unsere eigenen Verhaltensweisen werfen und Aufschluss über unsere eigenen Ursprünge geben.

Selbstidentität
Unsere Selbstwahrnehmung, geprägt durch Kultur, Gesellschaft und individuelle Erfahrungen.

Analyse von Skeletten
Eine Methode, um durch die Spuren der Knochen mehr über vergangene Zivilisationen und Individuen zu erfahren.

Life History Theory
Ein Ansatz, um menschliches Verhalten durch den Blick auf unsere Entwicklungs- und Lebensgeschichte zu verstehen.

Forschungsmethodik

Die Anthropologie stützt sich auf verschiedene Forschungsmethoden, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Methodisch zeichnet sie sich durch ihre vergleichende Analyse und ethnografische Feldforschung aus. Mit letzterer erfassen Anthropolog:innen mittels direkter Beobachtung und Teilnahme das tägliche Leben und die Praktiken einer Gemeinschaft, um ihre Forschungsthematik aus erster Hand zu verstehen. Dieser immersive Ansatz gibt Anthropolog:innen ein tiefes, nuanciertes Verständnis für die Thematik, die sie studieren. Imperativ ist hier der kulturelle Relativismus, eine Auffassung, die besagt, dass kulturelle Normen, Werte und Praktiken ausschließlich im Kontext ihrer eigenen Kultur verstanden und bewertet werden können. Dieser Ansatz lehnt universelle Bewertungsmaßstäbe ab und befürwortet eine neutrale, nicht wertende Perspektive zur Vermeidung ethnozentrischer Bewertungen (die Tendenz, die eigene Kultur als überlegen anzusehen und andere Kulturen daraus zu beurteilen) und zur Förderung eines tieferen Verständnisses menschlicher Vielfalt.

Angewandte Anthropologie

Die Anthropologie findet Anwendung in vielen Bereichen, unter anderem in der Entwicklungshilfe oder im Krisen- und Katastrophenmanagement. Durch die Anwendung anthropologischer Methoden und Kenntnisse können beispielsweise Katastrophen besser gemanagt und die Hilfe effektiver gestaltet werden.

Anthropologie in Deutschland

In Deutschland begegnet die Anthropologie spezifischen Herausforderungen. Obwohl vielfältig in ihrer Ausrichtung, ist sie oft unterrepräsentiert und wird in andere Fachbereiche eingebettet. Dies kann ihre klare Identität verwässern und sie im Schatten anderer Disziplinen stehen lassen. Die Präsenz und Entwicklung der Anthropologie in der akademischen Landschaft werden zusätzlich durch den Rückgang anthropologischer Lehrstühle beeinträchtigt. Diese Reduzierung zeigt die Dringlichkeit auf, die Relevanz und den Wert der Anthropologie sowohl in der akademischen als auch in der gesellschaftlichen Landschaft stärker zu kommunizieren. Denn gerade in einer immer stärker vernetzten und globalisierten Welt benötigen wir das tiefe Verständnis und die nuancierte Perspektive, die die Anthropologie bieten kann.
Die Anthropologie ist also ein Fenster zu uns selbst und zu den unzähligen Kulturen, die unsere Welt so reich und vielfältig machen. Es ist eine Disziplin, die uns lehrt, die Welt mit offenen Augen zu sehen und die Vielfalt der menschlichen Erfahrung zu schätzen sowie dieses Verständnis zu nutzen, um Brücken zwischen Kulturen und Gemeinschaften zu bauen.
Ich bin Anthropologin - und Forensikerin. Als solche beschäftige ich mich an der Hochschule Mittweida mit Biometrie und dem Bewegungsapparat. Davor hat mir mein Werdegang jedoch ermöglicht, mich mit der anthropologischen Bandbreite zu beschäftigen. Und immer wieder sehe ich, wie so viele Aspekte der Anthropologie, viele davon oben genannt, mir sowohl im Beruf als auch im Leben generell immer wieder begegnen. Gern möchte ich in zukünftigen Blogbeiträgen mehr über anthropologische Themen berichten.

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